Mit Apple-Uhren Kinder totalüberwachen
Eigentlich ging es beim jüngsten Apple-Event vor allem um eine neue Apple Watch. Mancher, ich auch, mag bezüglich der neuen "Gesundheits"-Überwachungsfeatures Parallelen zum dystopischen Film "Die Insel" sehen. Aber das Applezeug kann sich ja jeder erwachsene, mündige Bürger gern antun, wenn er es für eine gute Idee hält.
Interessanter und wesentlich fragwürdiger finde ich die Möglichkeiten der "Familienkonfiguration" für die Digitaluhren. Wenn Kindern (oder Omas, Opas, Eheleuten, Geschwistern, Hunden, Katzen) so ein Ding umgeschnallt wird, können die "Administratoren" des Familien-Netzwerks regelrechte Totalüberwachung initiieren - damit immer klar ist, wo die Uhrenträger sind. Und Alarme auslösen, wenn sich die Uhrenträger nicht am richtigen Ort zur richtigen Zeit befinden. Oder protokollieren, ob die Uhrenträger zu faul waren und mehr Bewegung brauchen. Oder festlegen, mit wem und auf welche Weise die Uhrenträger wann kommunizieren dürfen. Kinder haben in der Regel keine Wahl oder gehen steil, YAY - Apple Watch!!11 - die wissen gar nicht, was ihnen da angetan wird.
Obacht, da kommt ein/e Helikopter-Hockey-Pop/Mum im 2,5t-SUV mit Hybridantrieb. Stellt sich morgens in die Feuerwehrzufahrt des Schulgebäudes, damit der Junior nicht Gefahr läuft, auf den 10 Metern vom Parkplatz gegenüber zu verunfallen. Hat ein Smartphone zwischen Schulter und Ohr geklemmt und brüllt aus dem Seitenfenster: "Die Welt wird immer gefährlicher, da bin ich viel beruhigter, wenn ich jederzeit alles über mein Kind (oder Oma, Opa, Hund, Katze) weiß. Sonst dreh ich durch, ich warne Sie! ... (weiter-ins-Telefon-keif)"
Da kann ich nur sagen:
- Ich bin Vater, ich weiß um die Sorgen und Gefahren der modernen Welt.
- Sei froh, dass Dein(e) Kind(er) nicht vor 50, 60, 70 Jahren gelebt haben.
- Die Anzahl der Verkehrsunfälle (Paywall) mit Kindern ist gesunken.
- Die Anzahl von Sexualverbrechen an Kindern hat sich in den letzten Jahren nicht signifikant geändert
- Die Wahrnehmung der Eltern bezüglich Unfällen von Kindern ist verzerrt: Viele Eltern nehmen an, dass die Kinder vor allem im Verkehr verunglücken. Tatsächlich verunglücken sie mit Abstand am Häufigsten zu Hause.
- Der einzige mir ersichtliche Trend nach oben ist, dass Kinder häufiger in ärztliche Behandlung müssen, weil ihnen zu Hause irgendein Mist passiert - die Zahl der Unfälle außerhalb der eigenen vier Wände stagniert oder fällt.
- Und dann noch der Granddaddy aller Argumente für eine Totalüberwachung: Vermisste Kinder. Schnelle Suchmaschinenanfragen liefern etliche Clickbait-Headlines "Anzahl verschwundener Kinder dramaaatisch gestiegen". Okay, Kontext aufdröseln: Was sind Ursachen für Vermisstenanzeigen und wie häufig kommen sie jeweils vor? Auf den Plätzen:
- Ausreißer
- Elterliche Kindesentführungen wegen Scheidung, Trennung usw.
- Probleme im Rahmen der Migration
- Verirrte oder verletzte Kinder
Und dann noch Fälle, deren Gründe so divers sind, dass sie sich nicht so leicht zusammenfassen lassen. Nullkommasechs Prozent aller Fälle haben einen kriminellen Hintergrund, etwa Lösegelderpressung oder Sexualdelikte.
Also, die Top 2 (oder 3, je nach Auslegung): Kinder verschwinden wegen sozialen Problemen in ihrem direkten Umfeld.
Die Welt da draußen wird nicht gefährlicher für die Kinder, die Eltern werden nur nervöser, ängstlicher, überbehütend. Gründe dafür sehe ich einige, zum Beispiel eine ungünstige Beeinflussung durch die hyperaktive, aufmerksamkeitsbindende Medienwelt.
So, und dann überlegen wir mal:
- Was bringt mir wohl ein Totalüberwachungssmartwatchnetzwerk, wenn mein Kind zu Hause vom Apfelbaum fällt? (Apropos Baumklettern. Das gehört VER-BO-TEN!)
- Was bringt mir das Totalüberwachungssmartwatchnetzwerk, wenn mein Kind in der Schule oder im Fußballverein oder auf dem Spielplatz gemobbt und verkloppt wird?
- Was bringt mir das Totalüberwachungssmartwatchnetzwerk, wenn mein Kind am PC im Internet Dinge absurft, die einem wahlweise die Mittagessen hoch oder die Fremdschamesröte ins Gesicht (Youtube) kommen lässt?
- Was bringt mir das Totalüberwachungssmartwatchnetzwerk, wenn mein Kind sich vernachlässigt fühlt, weil Papa oder Mama keine vernünftigen Antworten auf Fragen geben können, weil sie dauernd an ihrem Handy rumfummeln müssen, um zu überprüfen, ob Frau oder Mann nicht gerade vielleicht im Bordell rumhurt.
Totalüberwachung ist kein Heilmittel für soziale Probleme. Sie verstärkt die Probleme eher noch. Denn kein Kind wird selbstbewusst und selbstständig, fühlt sich behütet oder ernst genommen, wenn es keinen Schritt alleine machen kann und auch keine Geheimnisse haben darf.
Und sich gegenseitig oder die Kinder prügelnde Eltern, kaputte Ehen, derangierte finanzielle Verhältnisse, elterliche Dummheit, Ignoranz oder schlimme Schicksalsschläge kann man mit einer Totalüberwachung auch nicht mitigieren.
Wenn im Übrigen sogar Unfallversicherungen davon abraten, Kinder überzubehüten... dann, äh, tja dann.